Am 1. September 2019 verlor der FC Augsburg 3:2 bei Werder Bremen. Diese Partie am 3. Spieltag kann als Paradebeispiel für Stephan Lichtsteiners Intermezzo in Schwaben angesehen werden. Viel Hoffnung gefolgt von viel Ernüchterung! Nach dem frühen Rückstand flankte Lichtsteiner in der 12. Minute mustergültig auf seinen Schweizer Kollegen Ruben Vargas, der per Kopf zum 1:1 ausglich. Zehn Minuten später zeigte sich der erfahrene Abwehrspieler dann jedoch von einer ziemlich naiven Seite, provozierte Bremens Friedl und Klaassen an der Seitenauslinie und holte sich folgerichtig die gelbe Karte ab. Wiederum zehn Zeigerumdrehungen später kreuzten sich dann die Wege von Lichtsteiner und Füllkrug, was Schiedsrichter Sören Storks als Foul wertete und Gelb-Rot zückte. Darüber kann man diskutieren, doch all das wäre hinfällig, hätte sich der 108-fache Nationalspieler zuvor cleverer verhalten.
Sei’s drum. Mittlerweile spielt Stephan Lichtsteiner nicht mehr beim FCA. Mitte August gab der 36-Jährige sein Karriereende bekannt. Damit verlässt ein ganz Großer die europäische Fußballbühne. Weil es der FC Augsburg auf seinen (deutschsprachigen) Kanälen verpasste, sich von Lichtsteiner (wie übrigens auch von Tin Jedvaj) gebührend zu verabschieden, möchten wir dies nun übernehmen. Ein Blick auf eine Karriere mit etlichen Höhen und einem leider unrühmlichen Ende am Lech.
Lichtsteiner & Vargas: Zwei FCA-Profis aus demselben Ort
Stephan Lichtsteiner wurde 1984 in Adligenswil geboren. Kurioserweise hat mit Ruben Vargas ein weiterer FCA-Profi seine Wurzeln im 5.000-Einwohner-Örtchen im Kanton Luzern. Auch der 22-jährige Flügelspieler begann das Fußballspielen beim lokalen Amateurklub FC Adligenswil. Die Eltern der beiden kennen sich. Als der um 14 Jahre jüngere Vargas einst mit dem Kicken begann, war Lichtsteiner längst in die Fußballwelt gezogen und für den kleinen Ruben „der Held unseres Dorfes“, wie er im September der Sport Bild sagte: „Ich habe zu ihm aufgeschaut. Er war ein Vorbild.“
Durchbruch in Zürich, Bänkerslehre in der Hinterhand
Über die Jugend des FC Luzern landete Lichtsteiner 2000 beim damals noch erfolgreichen Traditionsverein Grasshopper Club Zürich. Mit dem GCZ gewann der Verteidiger 2003 die Schweizer Meisterschaft – der erste von vielen Titeln in der Vita des Rechtsfußes.
Die starken Leistungen des damaligen U21-Nationalspielers blieben auch im Ausland nicht unbemerkt. 2005 wechselte Lichtsteiner nach Frankreich zum OSC Lille. Kurz zuvor schloss der bodenständige Fußballer eine Lehre als Bankkaufmann ab. Lichtseiner blickte schon früh über den Tellerand des glitzernden Hochglanzprodukts Profifußball hinaus und schaffte sich ein zweites Standbein, falls es mit der Karriere doch nicht klappen sollte. Nach einer erfolgreichen Zeit in Nordfrankreich zog es den Abwehrmann 2008 nach Italien – wo die Blüte seiner Fußballlaufbahn seinen Anfang nahm.
Lazio Rom – Stammkraft und Nationalspieler
Bei Lazio Rom war Lichtsteiner unumstrittener Stammspieler, stand in drei Spielzeiten in 100 Partien auf dem Platz. In seiner Premierensaison bei den Laziali stand das Double bestehend aus Supercup und Pokalsieg. Zu dieser Zeit war der Vorbildprofi längst Nationalspieler der Schweizer Nationalmannschaft und auf der Rechtsverteidigerposition für jeden Coach ein unverzichtbarer Mosaikstein auf dem Weg zurück in Europas Elite. Die Schweiz hat sich im 21. Jahrhundert zu einer festen Fußballgröße entwickelt – auch dank Lichtsteiner. Insgesamt bestritt er mit der Schweizer Auswahl fünf WM- und EM-Endrunden. Mit Heinz Hermann (118) und Alain Geiger (112) gibt es nur zwei Spieler, die mehr Länderspiele haben als Lichtsteiner. Zu seinen 108 Einsätzen wären eigentlich auch noch ein paar hinzugekommen, doch die coronabedingt abgesagten Länderspiele samt der EM machten dem langjährigen Kapitän einen Strich durch die Rechnung.
Einen wie Lichtsteiner hätte man in einem großen Turnier jedoch nach wie vor gebrauchen können. Der Routinier verkörpert Mentalität und Siegeswillen. Jedem, der daran zweifeln sollte, sei geraten, sich die letzten Sekunden des WM-Qualifikation-Playoffspiels 2018, Schweiz gegen Nordirland, anzusehen. In der 94. Minute, die Schweiz verteidigt einen Eintorevorsprung, legt sich Lichtsteiner den Ball auf Höhe der Mittellinie vor und setzt zum Sprint an. Weil im gleichen Moment abgepfiffen wird, wird aus dem Sprint unmittelbar ein Kniejubel samt ausgebreiteten Armen gen Basler Nachthimmel. Ein klassischer Leader eben.
Juventus Turin – der Aufstieg zur Weltklasse
2011 wagte Lichtsteiner dann das Abenteuer Juventus Turin. Für den italienischen Serienmeister stand der Rechtsverteidiger 201 Mal auf dem Rasen und feierte jedes Jahr mindestens einen Titel: In seinen sieben Jahren bei der Alten Dame holte Lichtsteiner jedes Mal den Scudetto, vier Mal die Coppa Italia und drei Mal den Supercup. Darüber hinaus stand er mit Juve zwei Mal im Finale der Champions League, konnte sich jedoch nie den Henkelpott sichern.
In Turin spielte Lichtsteiner mit Weltstars wie Gigi Buffon, Giorgio Chiellini, Dani Alves, Andrea Pirlo, Paul Pogba, Paulo Dybala, Gonzalo Higuain, Alessandro Del Piero und nicht zuletzt auch eine Saison mit Ex-FCA-Torwart Alexander Manninger.
Zu seiner Zeit bei der Alten Dame erreichte Lichtsteiner sportlich zudem noch einmal ein anderes, höheres Level. An die Glanzleistungen seiner Positionskollegen Dani Alves oder Philipp Lahm kam der Rechtsverteidiger dabei zwar nicht heran, doch der Schweizer avancierte zeitweise definitiv zu einem der besten seiner Zunft: Fehlerlos in der Defensive, sicher im Passspiel und ansehnliche Flanken in der Offensive. Darüber hinaus Führungsspieler und Taktgeber. Alles in allem ein Rechtsverteider, auf den man sich verlassen konnte. Es gibt nicht wenige Fans des italienischen Rekordmeisters, die sich wehmütig an das Zusammenspiel zwischen Pirlo und Lichtsteiner zurückerinnern. Die beiden schienen sich zeitweise nahezu blind zu verstehen.
Über Arsenal nach Augsburg
Weil gegen Ende seiner Zeit bei den Bianconeri die Einsätze weniger wurden und er sich zudem wegen eines geplatzten Wechsels zu Inter Mailand mit der Klubführung verworfen haben soll, verließ Lichtsteiner 2018 Italien und wechselte zu Arsenal London. Im offensiv ausgerichteten Sytsem des damaligen Arsenal-Trainers Unai Emery funktionierte der zu dieser Zeit 34-Jährige jedoch nicht wirklich. Lichtsteiner büßte immer mehr an Geschwindigkeit ein und war für die Dreier- beziehungsweise Fünferkette in der Verteidigung schlicht nicht der richtige Mann. Nach 14 überschaubaren Spielen für die Engländer endete der Einjahresvertrag und der FC Augsburg schnappte zu. Ein Königstransfer dachten sich damals einige FCA-Fans. Respekt, Herr Reuter, so einen international erfahrenen Profi nach Schwaben zu lotsen.
Im Nachhinein ist dieses Experiment leider gescheitert. Der zweifache Vater offenbarte nicht wegzudiskutierende Geschwindigkeitsprobleme, die er auch mit seinem Stellungsspiel nicht wettmachen konnte. Die grundsätzliche Idee, Eigengewächs Raphael Framberger einen Routinier an die Seite zu stellen, war jedoch eine äußerst gute. Nach wie vor.
Danke, Stephan!
Insgesamt absolvierte Lichtsteiner 20 Spiele für Rot-Grün-Weiß. Das letzte Mal auf dem Rasen stand der 38-Jährige am 17. Juni bei der 1:3-Niederlage gegen Hoffenheim. Was für ein unrühmliches Ende einer großen Karriere. Auch wenn sich wohl viele FCA-Fans und wohl auch Lichtsteiner selbst mehr vom einjährigen Gastspiel erwartet hätten, kann man als kleiner FC Augsburg durchaus stolz sein, dass ein Spieler dieses Kalibers seine Karriere am Lech beendet hat.
Die Gazetten-Redaktion spricht ein herzliches Dankeschön aus – für deinen Einsatz und deine Erfahrung, die du hoffentlich ausgiebig an Raphael Framberger weitergegeben hast. Danke Stephan, wir wünschen dir für deine private Zukunft alles Gute! Wie die aussieht, ist noch ungewiss. Im Gespräch mit der Luzerner Zeitung sagte er vor wenigen Tagen: „Ich plane nun zweigleisig. Auf der einen Seite mache ich die Trainerdiplome, auf der anderen Seite schaue ich in die Wirtschaft hinein. Ich möchte mir Zeit nehmen, um herauszufinden, wo mein Weg hinführt“ – viel Glück dabei.
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