Haifischbecken Profifußball?

„Wenn du nur einmal eine halbe Stunde meinen Kopf hättest, dann würdest du verstehen, warum ich wahnsinnig werde.“  – Vor rund 11 Jahren nahm sich der deutsche Nationaltorhüter Robert Enke selbst das Leben. Er litt lange Zeit unbemerkt an Depressionen. Und verlor – auch durch die Bedingungen in der Fußballwelt – seine Lebenslust. Ganz Fußballdeutschland war und ist immer noch erschüttert. Man muss sich derzeit jedoch unweigerlich die Frage stellen, was der (Profi-)Fußball davon gelernt hat. Die zuletzt geäußerten Rücktritte von großartigen Spielern wie Schürrle und Höwedes haben medial hohe Wellen geschlagen. Und seit Per Mertesacker Anfang 2018 gestand, am Druck im Profilfußballgeschäft fast zerbrochen zu sein, stellt man sich zurecht die Frage nach dem Warum.

„Basti Fantasti“ tritt ab – 2007

Im Jahre 2007 hat Fußballdeutschland erstmalig den Atem angehalten: Sebastian Deisler, Mittelfeldstratege des großen FC Bayern München, hatte gerade vor laufenden Kameras sein Karriereende mit jungen 27 Jahren bekannt gegeben. „Basti Fantasti“, so sein Spitzname aufgrund seiner großartigen Fähigkeiten auf dem Platz, hatte im Laufe seiner Karriere mit vielen Verletzungen zu kämpfen und war das Fußballgeschäft müde geworden.

Deisler in prominenter Runde im Trainingslager des FC Bayern. Was nach Spaß aussieht war keiner mehr. (Photo by Andreas Rentz/Bongarts/Getty Images)

Nach 5 Knie-OP’s und diversen Zukunftssorgen beschloss Deisler nun sehr früh, seine Karriere im Fußballzirkus zu beenden. Er erklärte damals: „Ich habe die Freude und den Spaß verloren. Es war zuletzt für mich eine Qual. Ich kann nicht mehr“ Und er ging noch weiter: „Ich habe Krieg geführt gegen mich, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe.“ Deisler zieht sich in Folge zurück, verbarrikadiert sich und schließt mit dem Profifußball ab. Reich sein habe ihn nie glücklich gemacht. „Ich war oben angekommen und vor der Tür stand ein Mercedes. Aber das alles hat mich nicht glücklich gemacht“, so Deisler damals.

Ein alter Kollege von Deisler wechselte ebenfalls mit 27 vom Profifußball zum Lehramt – von jetzt auf gleich. Tobias Rau, Nationalspieler, beschreibt dies so: „Ein wichtiger Grund waren die Verletzungen. Ich habe mich immer und immer wieder rangekämpft. Irgendwann war das Feuer weg.“ Heute ist er Lehrer an der Gesamtschule in Borgholzhausen in Nordrhein-Westfalen, fernab des Milliardengeschäft des Fußballs.

Der Verlust von Robert Enke – 2oo9

Der Nationaltorhüter Robert Enke zeigte stets Topleistungen in der deutschen Bundesliga, doch zahlreiche private Schicksalsschläge zeichneten ihn. Lange Jahre litt er unentdeckt an Depressionen. Einst wurde er beim großen FC Barcelona als neue Nummer eins gehandelt. Jedoch wurde wegen Versagensängsten, Selbstzweifeln und Heimweh daraus nichts. Erst 2004 – nach seinem Wechsel zu Hannover 96 – fand Enke nach längerer Auslandsodyssee den sportlich passenden Verein. Dort wurde er auf Anhieb Stammtorhüter und sagte anderen namhaften Clubs aufgrund der Treue zum Verein ab.

Was hat sich 10 Jahre nach dem Tod von Robert Enke getan? Der Druck im Profifußball ist immer noch immens. (Photo by Jörg Schüler/Bongarts/Getty Images)

Die Menschen in und um Hannover verehrten ihn, auch der Rest Fußballdeutschlands schätzten den so ruhigen Torwart sehr. Enke wollte seine Erkrankung, die schon lange ärztlich bekannt war, selbst nicht öffentlich machen, man fand medial andere Gründe. Enke spielt wegen einer Grippe nicht, hieß es dann. Aus Angst vor beruflichen Konsequenzen zog Enke es vor, seine Krankheit zu verheimlichen und wollte sich nicht in einer Klinik behandeln lassen. Bis zum Schluss hielt er seine Krankheit vor Fans, vor allen geheim und keiner schöpfte je Verdacht. Mit 32 Jahren nahm sich Enke 2009 nach vielen Jahren innerlichem Kampf im Hannoveraner Umland das Leben.

Der Fall Rafati – 2011

Der ehemalige Bundesliga-Schiedrichter versuchte sich Ende 2011 an einem Bundesligaspieltag, das Leben zu nehmen. Er erschien zu Anpfiff der Partie nicht im Stadion, seine Assistenten fanden ihm im Hotelzimmer. Rafati konnte geholfen werden und er bekannte sich öffentlich zu seiner Krankheit.

Als hart kritisierter Schiedsrichter hat auch Rafati damals viel einstecken müssen, wie Kritik, Anfeindungen. Der permanente Leistungsdruck habe ihn dann krank gemacht, so Rafati. „Meine Erwartungen an mich selbst und die damit einhergehenden Existenzängste waren immens. (…) Schließlich hielt ich dem Druck nicht mehr stand. Ich wurde depressiv.“ Heute ist er Mentaltrainer und klärt andere über Depressionen auf.

Ehrlich, Ehrlicher, Per Mertesacker – 2018

Per Mertesacker ist mit seinen zwei Metern Körpergröße ein gestandener Mann und lernte vielen Stürmern das Fürchten. „Big Fucking German“ nannten sie ihn fast ehrfürchtig in England. Doch wie oft er sich an schlechten Tagen vor dem Betreten des Spielfeldes und dem damit verbundenen Leistungsdruck fürchtete, das war ihm nicht anzusehen. Mertesacker schilderte der Öffentlichkeit eingehend, „Vor jedem Spiel habe sein Körper mit Brechreiz und Durchfall gestreikt.“

Per Mertesacker ging kurz vor seinem Karriereende offen mit den mentalen Herausforderungen des Profifußballs um. (Photo by Marc Atkins/Getty Images)

Aus Angst und auch aus einer gewissen Schamhaftigkeit hat er diese Gefühlslage stets verborgen. Auch berufliche Konsequenzen fürchtete der ehemalige Innenverteidiger, zuletzt war er für Arsenal am Ball. Warum „Merte“ kurz vor seinem Karriereende nach 15 Jahren Profifußball „ausgepackt“ hat? Er wollte „für die nachfolgenden Generationen auch die Schattenseiten des angeblichen Traumberufes ausleuchten“. Nach dem Karriereende wirkte er wie von einer unglaublich großen Last befreit.

Die Karriereenden von Schürrle, Höwedes – 2020

Heute, im Jahr 2020 und in Zeiten der Covid-19- Pandemie, gaben die beiden Weltmeister André Schürrle und Benedikt Höwedes ihre Karriereenden bekannt.

Höwedes ist 32, hat zuletzt in Russland gespielt. Er berichtet im Spiegel, dass er – ähnlich wie Deisler – dem Luxus des Profifußballs nichts abgewinnen konnte, die Werte in der Fußballgesellschaft nicht mehr leben konnte. Dies bemerkte Höwedes 2017 am eigenen Leib. Er wurde auf Schalke, seinem langjährigen Stammverein, zuerst als Kapitän abgesetzt und dann auf die Bank versetzt. „Ich wusste, dass es in dem Geschäft knallhart zugeht. Aber ich hatte immer nur die Sonnenseite kennengelernt. Dann habe ich die volle Breitseite bekommen“, so der Weltmeister von 2014. Höwedes kritisiert die Entwicklung des Fußballs, dieser hat sich brutal entwickelt“ und „immer weiter distanziert von den normalen Fans“. Höwedes zieht nun aus eigener Kraft den Schlussstrich und verabschiedet sich aus dem Profifußball.

Gerade noch auf dem Platz und ein paar Monate später den Schlussstrich unter eine große Karriere gezogen, auch weil das Geschäft Profifußball brutale Seiten hat: Benedikt Höwedes. (Photo by Maja Hitij/Getty Images)

Auch André Schürrle gab zuletzt sein Karriereende bekannt: Mit 29 Jahren hat der Weltmeister von 2014 dem Profifußball nun den Rücken gekehrt. Schürrle, einst ein Ausnahmetalent, teilte seine Entscheidung auf Instagram mit. Er berichtete von Einsamkeit, dass Tiefen zunahmen und die Höhepunkte immer geringer wurden. Und das Ausblenden von Gefühlen bemängelt er: „Man muss ja immer eine gewisse Rolle spielen, um in dem Business zu überleben, sonst verlierst du deinen Job und bekommst auch keinen neuen mehr“. Sein Leben geht nun jenseits der Öffentlichkeit weiter, freut Schürrle sich auf seinem Instagram Account auf die neuen Herausforderungen und einen neuen Lebensabschnitt.

Quo vadis, Profifußball?

Depression zeichnet sich gemäß der WHO durch große Niedergeschlagenheit aus – eine große Leere im Innern ist nicht selten bei den Betroffenen. Weiterhin erfreuen sich Personen an Dingen kaum bis gar nicht mehr, die vor der Krankheit ein Hobby waren oder Spaß machten. Zuletzt ist eine Antriebslosigkeit zu bemerken, die eine innere Müdigkeit aufzeigt. Eine tiefgreifende, seelische Erkrankung, die negativen Gedanken sind an der Tagesordnung. Man kommt aus diesem Teufelskreis selten allein wieder raus.

Depressionen sind das eine große Extrem. Viele Profisportler kommen aber – wie auch Höwedes und Schürrle zuletzt – mit dem enormen Leistungsdruck und dem medialen Umfeld nicht zurecht. Auch ausbleibender Erfolg kann eine große Last sein. Daher muss man sich die Frage stellen, ob der Profifußball nicht doch eine Art Haifischbecken ist. Heute der Held und morgen der Depp. Im Profifußball ist auch heute noch kein Platz für Schwäche. Aber der Weg, aufzuhören, dem Business noch einen Wink mitzugeben und mündig zu sein, das ist respektabel – wie André Schürrle dies zuletzt handhabte. Das ist menschlich und Fußball als schönste Nebensache der Welt muss das sein. Oder besser: werden. Denn hieran ist wirklich noch zu arbeiten. Ein gutes Beispiel ist hier der BVB, der trotz der langen Stoffwechselerkrankung von Mario Götze nie an diesem gezweifelt hat medial und an im festgehalten hat. Und Schürrle zieht jetzt die Notbremse, bevor es zu spät ist, denn das „in sich hineinfressen“, das „stumme Leiden“, macht die Sache nicht besser. Eher im Gegenteil.

Per Mertesackter freute sich damals schon sehr auf sein Karriereende, denn dann wird er seinen eigenen Worten nach mit über 30 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben frei sein. Heute ist der mittlerweile 35jährige Trainer und Experte.

The future is now

Sebastian Deisler hat den Ausweg geschafft. Er schrieb ein Buch darüber. Seine Biografie – mit dem Titel „Zurück ins Leben“. Der Berliner Tagesspiegel schrieb damals: „Sebastian Deisler reißt sich ein tiefes Loch ins Herz, um sich wieder selbst zu gehören. Es ist, als öffne sich für ihn ein neuer Horizont. Ein Horizont ohne die alten Ängste, Qualen, ohne Seelenschmerz“.

Robert Enke verlor diesen Kampf. Damals hieß es auf einer Pressekonferenz: „Wir müssen heute über ein Tabuthema in der Bundesliga sprechen. Robert Enke hatte Depressionen“. Robert Enke konnte seine Krankheit geheim halten. Seine Frau Teresa berichtete einen Tag nach dem Tod ihres Ehemannes, dass dieser panische Angst vor dem Bekanntwerden hatte. Dass er abgeschrieben wäre, in der Bundesliga, in der Nationalmannschaft. Da es damals ein unausgesprochenes Tabu im Profifußball darstellte.

Teresa Enkes Aufklärungsarbeit über Depressionen und ihre Auswirkungen ist noch lange nicht zu Ende. Aber zumindest kleine Fortschritte kann sie erkennen. (Photo by Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Doch sind wir 2020 wirklich weiter als im Jahr 2009? Alle gelobten damals Besserung, man wollte Aufklärungsarbeit leisten. Hier zeigen sich große Defizite in der Umsetzung. Zwar ist das Thema medial nun deutlich präsenter, doch an professioneller psychologischer Betreuung der Spieler und Funktionäre mangelt es heute noch. Ein gutes Vorbild sieht man mit Blick auf die Insel: In England ist es seit mehreren Jahren möglich, sich anonym bei einer Hilfe-Hotline zu melden und psychologische Beratung zu erhalten. Dieses Angebot wird häufig nachgefragt und mit einem Stigmenwechsel in Verbindung gebracht. Über mentale Probleme wird dort heutzutage offener geredet, als hierzulande.

Per Mertesacker hat den Weg in die Öffentlichkeit gewagt, jedoch erst als seine Karriereende schon publik war. Teresa Enkes Robert-Enke-Stiftung trägt einen Teil zur Enttabuisierung bei. Sie berichtet Ende 2019: „Ich finde, wir sind ein ganz großes Stück nach vorne gekommen. Ich krieg mit, wie offen über das Thema Depression gesprochen wird. Ich glaube, viele haben endlich begriffen, dass es sich eben um eine Krankheit handelt.“ Ihre Stiftung hat ein Seelsorgenetzwerk geschaffen mit ca. 70 Sportpsychiatern und eine eigene Hotline für Sportler eingerichtet.

Die großen Ablösesummen, die Gehälter, das mediale Umfeld -all das kann den inneren Druck auf Leistungssportler erhöhen. Auch ein Weltklasse-Spieler wie Gianluigi Buffon berichtete einst davon, als junger Mann unter Depressionen und Panik-Attacken gelitten zu haben. „Es sah für mich so aus, dass sich niemand um mich kümmerte, sondern nur um den Fußballer, den ich darstellte. Alle fragten nur nach Buffon, niemand nach Gigi“, so der Italiener im Jahr 2019. Geholfen hat ihm insbesondere die Hilfe anderer, denn „wenn ich diese Erfahrung nicht gemacht hätte, diese Vernebelungen und Konfusionen mit anderen Menschen nicht geteilt hätte, wäre ich dort vielleicht nicht rausgekommen“.

Wenn Menschen im Profifussball, wie Hannovers Martin Kind, sich zu Aussagen hinreißen lassen – wie „Bei uns wird er keine Chance mehr haben (…) Wir hätten ihn gar nicht verpflichten dürfen damals“ – üben sie mehr oder weniger unwissentlich Druck auf andere Personen aus. Wie in dem Falle auf Hannovers Torwart Ron-Robert Zieler. Spieler, Schiedsrichter, Trainer – keiner soll respektlos an den Pranger gestellt werden. Hier müssen wir lernen. Und daran arbeiten. Das Miteinander rücksichtsvoller gestalten in der Gesellschaft wie im Leistungssport, den Druck von den Spielern/Schiedsrichtern/Trainern nehmen – anstatt dies mit medialen und unbedachten Aussagen noch zu verstärken. Work-Life-Balance und Achtsamkeit sind nicht nur im Alltag eines Büroangestellten wichtig, sondern dies gilt auch für den Profifußball. Denn wo Erfolg ist und so viel Geld fließt, ist auch mentale Stärke gefragter denn je.

André Schürrle auf dem Weg zu Ruhe und Entspannung. Wir wünschen ihm nur das Beste auf seinem Weg. (Photo by Epsilon/Getty Images)

Ein nächster Schritt wäre es nun, wenn Leistungssportler sich anvertrauen dürfen, wenn sie schon vor dem Karriereende zugeben dürfen, was sie fühlen und spüren. Und nicht mundtot gemacht werden. Oder schweigen wollen – aus Angst. Dieses Tabu ist eigentlich eins, was eigentlich keines (mehr) sein sollte.

Und wünschen wir den Menschen, die uns so tolle Momente wie André Schürrle im WM Finale 2014 beschert haben, einen tollen Neubeginn. Mit den kleinen Dingen, die einen erfreuen. Mit wenig Rampenlicht. Und ganz vielen Höhen. Denn André Schürrle braucht nun keinen Beifall mehr.

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